Arbeiten mit Schriften II: Schriften finden

Sep 8th, 2010 | By ralph.berger | Category: Mikrotypographie, Schriften suchen

Die Zeitschrift PAGE widmet dem Suchen und Finden der richtigen Schrift den Schwerpunkt ihrer Ausgabe 7/2010. Eine Stellungnahme.

Schriften sind für einen One-Night-Stand denkbar ungeeignet. Es ist das Dilemma des Überflusses: 80.000 Schriften warten auf ihren Einsatz. Wer soll das noch überblicken? Und so beschreibt Gabriele Günder in ihrem Editorial auch eine sehr typische Szene aus Agentur- und Redaktionsleben: hektische Suche nach der Non-Plus-Ultra-Type, verzeifelte Hilferufe nach den Experten und am Ende die Erkenntnis: Was für eine Englische Tageszeitung in den 1920er Jahren gut war, muss einem Unternehmen im 21. Jahrhundert auch noch billg kommen.

Der Heftschwerpunkt ist wie immer in einem hochwertigen Fachmagazin engagiert entwickelt, aber leider zu oft dem Zeitgeist geschuldet. Der Servicecharakter steht im Vordergrund, Hintergründiges jenseits des Mainstreams wird ausgeblendet.

Die Tipps sind gut, sehr gut sogar, man solle die einschlägigen Websites beobachten, Newsletter der Schriftschmieden konsultieren, Typomagazine verfolgen. Ich hab das eben mal kurz nachgeschlagen, dass sind bei mir insgesamt 45 und ich habe bestimmt nicht alle, besonders ausländische Schriftgestalter tauchen da fast gar nicht auf.

So blicke ich mit leichtem Unbehagen auf das Ganze. Gesprochen wird auch davon, dass man Schriften meist nur für ein Projekt benutzen kann, Zweitverwertungen sind möglich, seltener gewollt.
Meine Berufserfahrung sagt da etwas anderes: Bevor ich eine Schrift richtig verstehe und ihr Potential ausschöpfen kann, muss ich mit Ihr arbeiten, Ihre Feinheiten, die Details kennenlernen, ihren Charakter spüren. Für mich ist das immer wie eine Bekanntschaft, Freundschaft. Erst wenn ich eine Schrift wirklich gut kenne, kann ich auch gut mit ihr gestalten. Und das braucht Zeit. Und das bedarf der Beschränkung: Wenn ich wie eine Biene von Blüte zu Blüte hüpfe werde ich nie in die Tiefen eintauchen können.

Das spricht nun nicht gegen neue Schriften, oder für alte. Wenn überhaupt für gute und gegen schlechte oder für die richtigen aber gegen die falschen. Es spricht aber eindeutig gegen die Unübersichtlichkeit und für das Überschaubare.

Man kann das Thema nun auch aus der rückwertigen Perspektive betrachten und stellt dann fest, dass aus Schriften, die man als langweilig und bestenfalls gefällig ansieht schöne und typografisch einwandfreie Gestaltungen entwickeln kann, läßt man sich auf die Schrift und ihre Eigenheiten erst einmal ein. Aus der Fülle eines modernen Schriftenclans eine CI zu entwickeln mag spannend sein – eine Kunst ist es in aller Regel nicht. Aus einer Helvetica, Times oder Garamond ein schlüssiges Konzept zu erfinden sollte für jeden Gestalter ein Kinderspiel sein, aber genau an dieser Stelle versagen nicht wenige.

Dies ist ein Appell einfach und nachhaltig zu agieren. Schriften sagt man nicht umsonst Charakter nach, wir sehen Zehntausende, kennen Hunderte, machen Bekanntschaft mit Dutzenden und schließen Freundschaft mit wenigen. Haben wir Glück finden wir auch die eine oder andere Geliebte darunter.

Aus der Praxis für die Praxis

Ändern Sie aller drei, vier Monate die Standardschrift in Indesign. So arbeiten Sie die ersten Entwurfsstudien immer mit einer anderen Schrift und lernen Sie in verschiedenen Umfeldern ein wenig kennen. Als Übersicht für Neuerscheinungen und interessante Geschichten bekannter und weniger bekannter Schriftgestalter habe ich den Myfonts-Newsletter abonniert, folge Erik Spiekermann auf Twitter und habe in meinem RSS-Feed-Reader Slanted, Spatium, ILT (I love typography) A List apart und PAGE online. Das ist eigentlich schon fast zuviel. Am meisten bringt es m.E. eine halbe Stunde zwischendurch bei Myfonts zu stöbern; hier spricht mich die Präsentation der Typo am meisten an, aber das ist Geschmackssache, anderen gefällt Linotype, Elsner & Flake, Fontshop oder URW++ vielleicht besser. Am wichtigsten ist jedoch das Arbeiten mit der Schrift selbst. «Ton in des Töpfers Hand» hat es Jan Tschichold genannt. Besser kann man es nicht ausdrücken.

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